Seegras: der unterschätzte Verbündete im Klimaschutz


18. September 2022 Kategorie: Umwelt

Bis vor wenigen Jahren schenkte noch kaum jemand den ausgedehnten Meereswiesen aus Seegras Beachtung. Früher wurden zwar die angeschwemmten getrockneten Pflanzen als Dämm- und Füllstoffe verwendet, heute werden sie aber zumeist verbrannt. Für viele Gemeinden, die vom Tourismus leben, sind sind die Ablagerungen von Seegras ein jährlich wiederkehrendes Ärgernis. Zu Beginn der Tourismus-Saison müssen die Sandstrände, an denen sich Seegras-Matten gebildet haben, aufwändig gereinigt werden.

Seegras: der unterschätzte Verbündete im Klimaschutz

Wahrscheinlich würden sich die Verantwortlichen in diesen Gemeinden weniger über das angeschwemmte Seegras ärgern, wenn sie mehr darüber wüssten. Gerade als Küstenbewohner sollten sie in Zeiten des Klimawandels für jede Seegraswiese dankbar sein: Unser unscheinbarer Verbündeter in Sachen Klimaschutz speichert nämlich nicht nur jede Menge CO2, er trägt auch ganz massiv zum Küstenschutz und zum Erhalt der maritimen Artenvielfalt bei. Hier findest du spannende Infos über eines der ältesten Lebewesen der Welt.

Was ist eigentlich Seegras genau?

Seegras ist überhaupt kein Gras. Es sieht nur so aus als wäre es eine Grasart, die unter Wasser wächst. Überall auf der Welt – außer in der Antarktis – kannst du in flachen sandigen Küstengewässern auf Seegraswiesen treffen. Diese Pflanzengesellschaften wachsen in Wassertiefen von einem bis zu zehn Metern. Sie leben von Photosynthese, genau wie die Pflanzen an Land. Dabei wandeln sie Sonnenlicht, Wasser und CO2 in Glukose und Sauerstoff um. Unterwasserwiesen können das besonders gut: Seegras speichert mehr CO2 als der Regenwald und schlägt unsere heimischen Mischwälder um Längen bei der Sauerstoffproduktion.

Blätter und Triebe der Seegraspflanzen sind eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Je älter eine Seegraskolonie wird, desto mehr Wurzeln bildet sie aus. Bei guten Wachstumsbedingungen kann die Dicke der Wurzelschicht jedes Jahr um einen bis zwei Zentimeter zunehmen. Der Clou bei der Sache ist, dass Seegras rein theoretisch unbegrenzt lange leben kann. Auch wenn es Blüten und Samen ausbildet, vermehrt es sich hauptsächlich durch Wurzelausläufer. Ähnlich wie bei Bambus siehst du also viele verschiedene Halme – aber im Endeffekt ist das Ganze ein einziges Lebewesen.

Im Naturschutzpark „Parc Natural de Ses Salines“ zwischen Ibiza und Formentera bedeckt eine Seegraswiese 130 Quadratkilometer Meeresboden. Laut Schätzungen der Wissenschaftler am Mediterranean Institute for Advanced Studies soll diese Unterwasserwiese etwa 100.000 Jahre alt sein. Die Wurzeln in ihrem Zentrum können also unter Umständen mehr als einen Kilometern tief im Meeresboden stecken. Das Beste an der Sache ist aber, dass dieses gigantische Wurzelpaket während den 100.000 Jahren seines Lebens Unmengen an CO2 im Meeresboden verankert hat.

Seegras als unsichtbarer Küstenschutz

Wenn du Dir eine Seegraswiese anschaust, wirst du feststellen, dass sie viel kompakter wächst als das Gras auf dem Rasen vom Nachbarn. Die zarten Halme ragen dicht nebeneinander in Richtung Wasseroberfläche auf. Ein einziger Quadratmeter Seegras kann bis zu 1.000 einzelne Halme beherbergen. Durch deren große Anzahl an wirken Seegraskolonien wie flexible Wellenbrecher. Sie bremsen die Wellen in Küstennähe aus und hindern sie daran, angrenzende Küstengebiete abzutragen.

Aber nicht nur das: Über und neben den Seegraswiesen ist das Wasser ruhiger als dort, wo kein Seegras wachsen kann. Das „wilde Wasser von anderswo“ trägt viele kleine Teilchen mit sich, die es an anderen Stellen aufgewirbelt hat. Meistens handelt es sich dabei um mineralische und organische Stoffe – wobei mittlerweile auch ziemlich viel Mikroplastik mit den Wellen unterwegs ist. Weil diese kleinen Teilchen bei ruhigem Wasser zu Boden sinken, werden sie „Sediment“ genannt: etwas, dass sich absetzt wie der Kaffeesatz in Urgroßmutters Kaffeekanne.

Seegras wirkt also nicht nur als flexibler natürlicher Wellenbrecher, es schafft auch einen relativ ruhigen Bereich vor der Küste, in dem das Sediment zu Boden sinken kann. Es verfängt sich dann zumeist in dem dichten Seegrasteppich. So wird mit der Zeit der Meeresboden dort immer höher. Die miteinander verflochtenen Wurzeln unseres Verbündeten dringen natürlich auch in neu abgelagertes Sediment ein und hindern es daran, bei Stürmen fortgeschwemmt zu werden. So wächst der Meeresboden in geschützten Küstenabschnitten zusammen mit seinem Seegrasbewuchs immer weiter nach oben und schützt dadurch die Küste immer effektiver vor Erosion.

Warum wird Seegras als „Klimaretter“ bezeichnet?

Ganz einfach: weil der Meeresspiegel weltweit ansteigt und Seegraswiesen Unmengen an CO2 speichern und den Meeresboden anheben können. Wenn wir Menschen es schaffen, durch stark verringerte Schadstoff- und CO2-Emissionen den Meeresspiegelanstieg zu begrenzen, wird der natürliche Klimaretter in den Ozeanen einen wichtigen Beitrag zum Erhalt unseres blauen Planeten leisten. Seegraswiesen, die parallel zum Anstieg des Wasserspiegels nach oben wachsen, bieten einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz.

Im Mai 2022 wurde vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie eine Studie veröffentlicht, die nachweist, dass Seegraswiesen CO2 in Form von Zucker speichern. Bei Messungen an Wurzelstöcken in der Ostsee, in der Karibik und vor Elba lagen die Konzentrationen von Saccharose (Zucker) mindestens 80 Mal höher als bei Messungen an allen anderen pflanzlichen und tierischen Lebewesen im Meer. Meeresbiologen schätzen, dass Seegraswiesen weltweit 600.000 bis 1.300.000 Tonnen in Zucker umgewandeltes CO2 im Meeresboden gespeichert haben.

Ökosystem-Ingenieure: Seegraswiesen für den Artenschutz

Seegras schafft ein einzigartiges marines Ökosystem, das Tausenden von Lebewesen einen geschützten Lebensraum bietet. Auf 1.000 Quadratmetern Seegraswiese sollen laut verschiedener Studien bis zu 10.000 Fische Schutz und Nahrung finden. Auch Seepferdchen bevölkern diesen ökologisch einzigartigen Lebensraum. Hinzu kommen auf derselben Fläche etwa 1.200.000 Garnelen, Hummer, Muscheln, Schnecken, Tintenfische und Krebse. Zu diesen Unterwasser-Ökosystemen gehören dann natürlich auch noch Milliarden von Mikroorganismen.

Die prominentesten Bewohner von Seegraswiesen sind Manitas, Rochen, Haie, Schweinswale und

Delfine. Aber auch Wildgänse, Wildenten und andere Wasservögel besuchen gern das ruhige Wasser über dem Seegras, um dort zu weiden oder zu jagen. Außerdem haben die Seegräser eigene Abwehrstoffe gegen Pilze, Bakterien und andere Krankheitserreger gebildet. Sie verringern die Anzahl der Krankheitserreger im Flachwasser um etwa 50 %. Durch ihre immense CO2-Speicherkapazitaet verringern sie außerdem in ihrem Lebensraum die Versauerung des Meeres um bis zu 30 %. So schützen sie nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die der anderen Lebewesen in ihrem Ökosystem.

Klimaretter Seegras auf einen Blick

Seegras nützt uns Menschen in vieler Hinsicht. Es unterstützt unsere Bemühungen um

  • Artenschutz
  • Küstenschutz
  • Reduktion von CO2-Emissionen
  • Verbesserung der Wasserqualität in Küstenregionen

Seegras braucht Hilfe

Laut Angaben der UNEP (Umweltprogramm der Vereinten Nationen) haben sich die weltweiten Bestände an Seegras im Zeitraum zwischen 1970 und 2000 um 30 % reduziert. Etwa ein Viertel aller Seegrasarten stehen heute sogar schon auf der Roten Liste. Einer der wichtigsten Gründe für den Rückgang der Seegrasbestände ist die Meeresverschmutzung durch eingetragene Phosphate aus Kunstdüngern und das Einleiten von ungeklärten Abwässern. Dadurch vermehren sich Algen viel stärker als in sauberem Meerwasser. Sie rauben dem Seegras das Licht.

Ausgerechnet jetzt, wo wir langsam die Folgen des menschengemachten Klimawandels zu spüren bekommen, leidet einer unserer wichtigsten natürlichen Verbündeten unter den immer zahlreicher werdenden Hitzewellen. Seegras veträgt keine starken Temperaturanstiege. Im Shark Bay Marine Park vor Westaustralien wurden während der Hitzewelle von 2010/2011 knapp 700 Quadratkilometer Seegraswiesen schwer geschädigt. Sie brauchten drei Jahre, um sich zu regenerieren.

Im Kampf gegen die weltweite Klimakrise muss die Zerstörung unserer Seegraswiesen unbedingt gestoppt werden. Mittlerweile befassen sich immer mehr Wissenschaftler mit den bislang kaum beachteten Pflanzen – besonders am GEOMAR Hemholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Es gibt sogar schon verschiedene Renaturierungsprojekte, bei denen sich auch Privatleute engagieren können. Vielleicht hast du ja Lust, dich bei einer Initiative zur Restauration der Seegraswiesen in der Ostsee zu beteiligen?